Orientalisierende Architektur

Ein Berliner Wahrzeichen im „maurischen“ Stil: Die Neue Synagoge (1866 eingeweiht, teilweise 1938 zerstört)
Villa Crespi, ein 1879 erbautes Haus mit Minarett für einen Industriellen mit Orientkontakten

Als orientalisierende Architektur werden Bauwerke bezeichnet, die in Form und Dekor orientalische Bauformen imitieren oder zitieren. Es handelt sich dabei um eine Variante des Historismus, die in Zusammenhang mit dem Orientalismus in der Kunst zu sehen ist.

Motive orientalischer Architektur treten bereits als Versatzstücke in zahlreichen Schlossgärten des 18. Jahrhunderts auf. Beispiele sind etwa die „Moschee“ im Park von Schloss Schwetzingen, entsprechende Bauten in Eisgrub (Lednice) oder Kew. Aus dieser Zeit stammen auch zahlreiche „Pagoden“. Auch das um die Mitte des 19. Jahrhunderts errichtete Dampfmaschinenhaus in Form einer Moschee zählt zu dieser Art von exotischer Staffage. Das maurische Andalusien, der Nahe und Ferne Osten sowie die Mogularchitektur Indiens dienten als bevorzugte Vorbilder. Wie bei dem durch Napoléons Ägyptenfeldzug stimulierten Neuägyptischen Stil spielten auch militärische und Handelsverbindungen eine Rolle. Dabei löste die militärische Überlegenheit der europäischen Mächte und, speziell in Mitteleuropa, der Wegfall der jahrhundertelangen Bedrohung durch die Türkenkriege einen freieren und zum Teil romantisierenden Umgang mit Stilelementen der östlichen Kulturkreise aus. Orientalisierende Palastarchitektur schufen John Nash in Brighton mit seinem Royal Pavilion (1815–1822), und wenig später der britische Architekt Edward Blore mit dem Palast des Michail Semjonowitsch Woronzow in Alupka auf der Krim. Im ausgehenden 19. Jahrhundert tritt dazu noch das Motiv der wachsenden handelmäßigen Verknüpfung und die Verwendung exotischer Architekturen als Element der Reklame, so bei der Yenidze-Zigarettenfabrik in Dresden, bei der orientalisierenden Zacherlfabrik in Wien (der Rohstoff des Zacherl’schen Mottenpulvers, Pyrethrum, stammte aus dem vorderen Orient), und bei der Villa Crespi eines Baumwollindustriellen mit intensiven Handelskontakten in den arabischen Raum.

Generell wurde im Historismus orientalisierendes Dekor als Teil des zur Verfügung stehenden Vorrats an symbolisch einsetzbaren Stilelementen gesehen und für spezialisierte Bauaufgaben angewendet, etwa für Synagogen, für die der „maurische Stil“ eine Zeit lang typisch wurde. Beispiele dafür sind die Semper-Synagoge in Dresden, der Leopoldstädter Tempel in Wien und die Dohány-Synagoge in Budapest. Ähnliches galt für die Ritualarchitektur zahlreicher zwischen 1870 und 1930 errichteter Freimaurertempel in den USA, namentlich für Bauten der Shriners.

Besondere Bedeutung hatte die maurische Variante des Historismus in Spanien, wo sie als unmittelbarer Rückgriff auf die eigene Geschichte gesehen werden konnte (Neo-Mudéjar-Stil oder Neomaurischer Stil). Auch Antoni Gaudí inspirierte sich, vor allem in seinen Frühwerken, am maurischen Erbe, etwa bei der Casa Vicens oder beim Bischofspalast von Astorga. In Andalusien wurde der Neo-Mudéjar Stil vor allem bei den Ausstellungsvorhaben von 1929 populär, typisch etwa bei der Plaza de España (Sevilla) und beim Gran Teatro Falla in Cádiz. In Madrid erhielten um 1900 viele Wohnbauten Neo-Mudéjar-Dekor. Aus den 1920er Jahren stammen die Las Ventas Stierkampfarena und das Bürogebäude der Zeitung Diario ABC.

Orientalisierendes Dekor wurde auch im Bereich der Vergnügungsindustrie eingesetzt und zur Belehrung, namentlich bei Weltausstellungen, in Vergnügungsparks und -lokalen (beispielsweise Vauxhall (London), Tivoli (Kopenhagen) und Bataclan (Paris)). Sehr beliebt war die Verwendung exotischer Stile bei Großkinos der Stummfilmzeit (siehe etwa Grauman’s Chinese Theatre, Grauman’s Egyptian Theatre), oder das Fox Theatre in Atlanta. Auch im Rahmen von zoologischen Gärten kam orientalisierende Architektur zur Verwendung. Zahlreiche Kaffeehäuser und -kioske wurden, wieder im Hinblick auf die orientalische Herkunft des Getränks, im maurischen Stil gestaltet.


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